Editorial 1/22
Wer heute ein Hotel bucht, dem kann es passieren, dass sie oder er in der Bestätigungsmail eine Belohnung von CHF 1000 angeboten bekommt, wenn sie oder er dem Unternehmen zu einem neuen Koch verhilft. Personalknappheit ist heute zu einem Risikofaktor nicht nur für die Gastrobranche geworden. Spitälern fehlen Pflegekräfte, in Konzernen wollen die Angestellten nicht mehr aus dem Homeoffice zurück, Lehrerinnen sind sowieso seit Jahren Mangelware und Heizungsinstallateure werden händeringend gesucht.
Den möglichen Personalmangel hatten zwar viele Unternehmen auf dem Radar – von der Dramatik der Situation hingegen sind viele trotzdem überrascht worden. Das dürfte mindestens zwei Gründe haben. Der erste ist die Vogel-Strauss-Strategie: ein Problem ignorieren und hoffen, dass es vorbeigeht und sich als nicht so gravierend herausstellt. Wenn das Risiko dann eintritt, erwischt es einen auf dem falschen Fuss.
Ein zweiter Grund, weshalb einen ein erkanntes Risiko trotzdem überraschen kann: Murphy’s Law oder ein Unglück kommt selten allein. Das erstaunliche an vielen Krisensituationen ist, dass nicht nur ein Fall eintritt, sondern gleich mehrere auf einmal. Bei der Risikoanalyse hat man vielleicht mit den höheren Transportkosten gerechnet, Lieferengpässe erwartet oder weniger Nachfrage in Betracht gezogen. Aber alles gleichzeitig?! Wenn das passiert, addieren sich die Effekte nicht einfach linear, sondern neigen dazu, sich unkontrolliert und exponentiell zu entfalten.
Durch die Komplexität der Welt und die Verstrickung einer unendlichen Anzahl von Abhängigkeiten und Einflussgrössen sind die Auswirkungen kaum voraussehbar. Das ist die Idee der Chaostheorie, nach der der Flügelschlag eines Schmetterlings in Südamerika einen Orkan am anderen Ende der Welt auslösen kann. Wir stecken ja mittlerweile mittendrin im Strudel steigender Energiepreise und Zinsen, Lebensmittelverknappung in Afrika, Krieg, Personalmangel, Rekordhitze und Trockenheit – und wir sind nicht einmal sicher, ob dies schon der Orkan ist oder erst die Ruhe vor dem Sturm.
Im dem Fall können wir uns das Risikomanagement also schenken? Keinesfalls. Doch wir könnten die Art des Risikomanagements überdenken. Die beiden Wissenschafter Karl E. Weick und Kathleen Sutcliffe meinen, dass es wichtig ist, grosse Ausschläge des Systems erst gar nicht entstehen zu lassen. In ihrem schon 2010 erschienenen Buch «Das Unerwartete managen» vertreten sie die Meinung, dass es mehr bringe, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren und den eigenen Geschäftsverlauf immer genau im Auge zu haben, als sich mit den Risikoanalysen zu weit in die Zukunft zu wagen. «Ein erfolgreiches Management des Unerwarteten ist ein achtsames Management des Unerwarteten.» Zu viel Risikomanagement könnte plötzlich hinderlich sein. Richtig zu reagieren, wenn es denn mal zu einer Krise kommt, ist ebenso wichtig.