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Unternehmen neu gedacht  
Grafik Kanone schiesst eine Kugel

«Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst hat, ist ein Sklave.» Führen wir uns dieses Zitat von Nietzsche vor Augen, stellen vermutlich die meisten von uns fest, dass wir womöglich «Sklaven» sind, obschon wir das nicht so empfinden. Freiheit ist ein hohes Gut und hat viele Facetten. Eine neue kommt – wie könnte es anders sein – aus den USA. Nachdem wir uns während mehrerer Dekaden ausgeprägt über unsere Arbeit definiert haben, drehen die Millennials (Jahrtausend-Generation) den Spiess um. Die FIRE-Bewegung hat auch in der Schweiz ihre ersten Anhänger:innen.

FIRE bedeutet «Financial Independence, Retire Early», also finanzielle Unabhängigkeit, früher Ruhestand. Die FIRE-Bewegung verfolgt das Ziel, bereits weit vor dem üblichen Pensionsalter die finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen und schon 10 oder 20 Jahre früher «in Rente» zu gehen. Die Mehrzahl der FIRE-Anhänger sind Millennials, die ihr Leben ganz anders gestalten wollen als die älteren Generationen. Viel zu oft erleben junge Menschen, wie ihre Eltern oder Grosseltern bis zum Umfallen arbeiten und dann den Ruhestand – meistens aus gesundheitlichen Gründen – nicht wirklich lange und intensiv geniessen dürfen. Sie wollen sich deshalb finanziell so aufstellen, dass sie bereits viel früher in Rente gehen, um nicht den Lebensabend, sondern vielmehr die zweite Lebenshälfte bewusst und hoffentlich gesund zu erleben. Doch dies bedarf verschiedener Massnahmen während der aktiven Erwerbszeit, die nur partiell beeinflussbar sind.

Nicht nur den Lebensabend, sondern die zweite Lebenshälfte bewusst erleben.

Mit 40 in Rente – wie soll das gehen?

Der Ruhestand mit 40 ist notabene nur wenigen Menschen möglich, mit Ausnahme von Personen, die eine grosse Erbschaft gemacht oder den Jackpot gewonnen haben. Damit die zwei wichtigsten Voraussetzungen überhaupt erfüllt werden können – diszipliniert Geld sparen und risikoreich anlegen – ist ein entsprechend hohes Gehalt unerlässlich.

Wer FIRE erreichen möchte, hat es nicht leicht. Um mitten im Berufsalltag bereits ins Rentnerleben zu wechseln, bedarf es einer maximalen monatlichen Sparrate. Dieser überdurchschnittlich hohe «Sparbatzen» muss umso risikoreicher investiert werden, um nach dem Frühruhestand vom passiven Einkommen leben zu können. Die FIRE-Anhänger:innen sprechen von der «Vier-Prozent-Regel»: Ein Vermögensverzehr von 4 % pro Jahr soll bis ans Lebensende reichen. Das setzt voraus, dass man

  • die monatlichen Ausgaben minimiert und die Einnahmen maximiert
  • das gesamte Vermögen konsequent und möglichst aggressiv anlegt.

Verzicht ist hier kein Unwort

Der erste Punkt ist selbsterklärend: Die Anhänger dieser Bewegung leben extrem sparsam. Deshalb werden sie oft auch «Frugalisten» genannt (frugal = schlicht, spärlich, karg). Gespart wird an allen Ecken und Enden: bei Hobbies, Ferien und Vergnügen, aber auch im Alltag. Eingekauft wird dort, wo es am günstigsten ist, die Haare schneidet man selber und auf Restaurantbesuche wird gänzlich verzichtet. So sollen rund 40 bis 50 Prozent der monatlichen Einnahmen zurückgelegt, oder besser, angelegt werden. Um ihre Ziele erreichen zu können, lehnt die FIRE-Bewegung aber auch keine Nebenjobs am Abend oder am Wochenende ab. Von wegen faule Millenials!

Doch mit dem Sparen allein ist es nicht getan. Die monatliche Sparquote muss konsequent und im Bewusstsein hoher Volatilität risikoreich angelegt werden. Das ist insofern ein Erfordernis, als nur so überhaupt eine genügend hohe Rendite zu erzielen ist.

Ein Spitzenlohn muss es schon sein. Wer im zarten Alter von 30 Jahren rund 100’000 Franken angespart hat, mit 40 in den Ruhestand gehen und danach von 60’000 Franken im Jahr leben will, muss monatlich rund 12’000 Franken mit einer Rendite von 6 % anlegen können. Wie war das nochmals mit dem Erzielen des hohen Gehaltes? Angesichts der erwähnten Sparquote von 40 bis 50 Prozent bedarf es somit eines Gehalts von rund 25’000 bis 30’000 Franken – pro Monat!

ein Mann schiebt eine Kugel den Hügel hoch

Ist der Frühruhestand überhaupt erstrebenswert?

Von mir ein klares NEIN. Selbstverständlich könnte der Frugalismus für viele von uns eine spannende Erfahrung in Sachen Sparsamkeit sein. Aber wollen wir ein Leben führen, in dem jeder Rappen zweimal umgedreht werden muss, und das freiwillig? Auch ist es unter normalen Umständen nicht erstrebenswert, während der Erwerbszeit mehrere Jobs gleichzeitig ausüben zu müssen. Ausserdem müsste der massive Verzicht nach der Erwerbsphase bis ins (hohe) Alter andauern. Und vergessen wir nicht: Viele Menschen müssen unfreiwillig verzichten, müssen mehrere Jobs ausüben und können trotzdem nichts auf die Seite legen. Somit steht der FIRE-Trend mit einem fahlen Beigeschmack in der Landschaft.

Ebenfalls wenig erstrebenswert, wenn nicht gar verheerend wäre es für die Wirtschaft, wenn sich ein solcher Trend grossflächig durchsetzte. Der massiv eingeschränkte Konsum würde die Konjunktur empfindlich schwächen. Ach ja, und da war doch noch der Fachkräftemangel … Wenn bereits heute fast alle Unternehmen händeringend Arbeitnehmende suchen, dürfte der Arbeitsmarkt beim FIRE-Szenario kollabieren.

Da versuchen wir doch lieber, unsere Sparquote moderat zu erhöhen und uns hie und da etwas Schönes zu leisten. Wer weiss, vielleicht reicht es ja dann doch für die Rente mit 63. Und wenn nicht, danken es uns im Zeitalter des Fachkräftemangels zumindest die Arbeitgebenden.

Das Erreichen des FIRE-Ziels ist Gut- bis Sehrgutverdienenden vorbehalten, die sich zudem während der Erwerbszeit massiv einschränken müssen.

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