Skip to main content
Unternehmen neu gedacht  

Globalisierung gibt zu wenig warm

Wir Menschen suchen Identität. Wir wollen uns mit Dingen, Orten und Werten identifizieren. Ist dieses zutiefst menschliche Streben mit Globalisierung vereinbar? Ich komme gleich am Anfang zum Schluss: Nein. Wer die Ausrichtung auf Globalisierung über alle anderen Sehnsüchte stellt, übersieht elementar Menschliches.

Vordergründig könnte man argumentieren, dass der Gegenpol zur Globalisierung die «Lokalisierung» sei: Gemeint ist das Modell einer intakten, aber auch ziemlich abgeschotteten Dorfgemeinschaft. Der Austausch von Ideen, von Wissen, von Gerüchten, von Handelsgütern oder Dienstleistungen würde in einer solchen kleinen und überschaubaren Welt stattfinden. Das allerdings halte ich für wenig wahrscheinlich, auch nicht als Retro-Trend – jedenfalls nicht in unseren Breitengraden. Vor ein paar Jahrzehnten hat es sie vielleicht noch gegeben, diese kleinzelligen Strukturen, vor allem in landwirtschaftlich geprägten Gegenden ohne Tourismus. Auch andernorts auf dem Erdball gibt es sie sicher noch heute, trotz Handy und Internet. 

Wir finden Objekte oder Werte, die uns das Gefühl von Identität, Zugehörigkeit und Vertrautheit geben, zwar nicht ausschliesslich, aber überwiegend im nahen Umfeld.

Keine Alternative

Es greift zu kurz, wenn wir dieses kleinräumige Modell als Alternative zur Globalisierung zeichnen. Die Menschen von heute haben zu viele Anknüpfungspunkte in alle Welt hinaus. Wenn meine Einschätzung zutrifft, dass wir uns die Globalisierung nicht wirklich wünschen, dann würde ich als Gegenbegriff nicht Lokalisierung, sondern Identität vorschlagen. Wir finden Objekte oder Werte, die uns das Gefühl von Identität, Zugehörigkeit und Vertrautheit geben, zwar nicht ausschliesslich, aber überwiegend im nahen Umfeld. Wir finden sie oft auch in einem Kreis von Menschen, die gemeinsame Vorlieben teilen, selbst wenn sie an ganz verschiedenen Orten leben. Wer ein seltenes Hobby hat, findet die Gleichgesinnten. Auch für diese gilt die Unverträglichkeit zwischen Identität und Zugehörigkeit einerseits und Globalisierung andererseits. 

Ich versuche es mit Beispielen: Man kann im Appenzellischen wohnen, Fussball mögen und Fan des FC Basel sein. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich jemand aus Herisau mit dem FC St. Gallen identifiziert. Wenn in der Zeitung, im Fernsehen oder im Radio von einem Anlass berichtet wird, dann verfolge ich diese Berichterstattung aufmerksamer, wenn das Ereignis in meiner Nähe stattfindet: ein Fest, ein Konzert, die Preisverleihung an eine Firma. Ich weiss sehr wohl, dass solche Anlässe manchmal sehr provinziell sind und dass andere Ereignisse objektiv gesehen viel «wichtiger» sind. Gleichwohl widme ich meine Aufmerksamkeit am intensivsten dem Nahe-Liegenden. 

Wenn ich in meinem Haus die Küche oder das Bad renoviere, dann hole ich zwar mehrere Offerten ein. Ich lege aber Wert darauf, dass es Offerten aus der näheren Region sind. Und es ist mir noch so recht, dass auch die Zulieferer der Küchen- oder Badezimmereinrichtungen aus der Region sind, auch die Elektrikerin, der Gipser, die Malerin, der Plättlileger. Ich verhalte mich so, obwohl ich weiss, dass ich es durch Anbietende jenseits der Landesgrenze deutlich günstiger haben könnte. Aber ich will, dass meine neue Küche, mein neues Badezimmer regionale Identität atmet. 

«Spiel» ohne Grenzen

Globalisierung ist ein ökonomisches Konzept. Sie betrachtet das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in einer «entgrenzten» Welt. Sie beschäftigt sich mit dem Abbau von Hemmnissen, mit limitierten oder auf den ersten Blick unlimitierten Ressourcen, mit Lieferketten, im besseren Fall auch mit der Internalisierung von externen Kosten (was anspruchsvoll und darum oft nicht erforderlich, schon gar nicht eingelöst ist). 

Ökonomie versteht sich als rationale Disziplin: So nehme ich es von ihren Vertreterinnen und Vertreter:innen wahr. Die Disziplin der Ökonomie geht davon aus, dass wir Menschen rational entscheiden: Wir würden in voller Kenntnis der Zusammenhänge jene Entscheidungen treffen, die mit minimalen Kosten den maximalen Nutzen versprechen. Und wenn sich die Märkte global aufspannen lassen – so lautet die Lehre – dann würden wir diese Aufwand-Nutzen-Erwägungen eben auch im globalen Massstab anwenden. Egal aus welcher Ecke der Erde ein nachgefragtes Gut kommt, sei dieses materiell oder virtuell, würden wir nach immer denselben Kriterien entscheiden. Eine «logische» Folge ist, dass von Land zu Land unterschiedliche Zölle, Einfuhrbegrenzungen, inländische Direktzahlungen oder Preisbindungen sowie länderspezifische Qualitätsüberprüfungen diesem Streben nach Rationalität widersprechen.

Die Disziplin der Ökonomie geht davon aus, dass wir Menschen rational entscheiden: Wir würden
in voller Kenntnis der Zusammenhänge jene Entscheidungen treffen, die mit minimalen Kosten den maximalen Nutzen ver­sprechen.

Homo oeconomicus

Aber es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir Menschen stets rationale ökonomische Entscheidungen treffen. Wir denken und handeln sehr oft irrational. Warum das so ist? Weil wir hochkomplexe Wesen sind und offensichtlich andere Werte höher gewichten als ökonomische Rationalität. Wir spüren intuitiv, dass anderes wichtiger ist: Beispielsweise Vertrauen und Reziprozität. Solche Werte sind aus der Forschung zum sozialen Kapital bekannt. In Gesellschaften mit einem hohen sozialen Kapital basieren viele Markt- und Tauschbeziehungen nicht auf dem Prinzip der «Ladenkasse»: Ich kaufe die Ware und schiebe gleichzeitig den Geldbetrag über den Tresen. Vielmehr sind wir in der Lage, zeitversetzt und ohne «Aufrechnen» in Franken und Rappen unseren Austausch zu pflegen. Wir geben heute etwas, im Vertrauen darauf, dass irgendwann etwas zurückkommt. Wir tun es, weil wir in der Vergangenheit gute Erfahrungen damit gemacht haben. Dieses «Etwas» muss nicht genau den gleichen (Geld-)Wert haben wie das, was ich gegeben hatte. Was ich irgendwann zurückerhalte, kann auch immateriell sein, zum Beispiel ehrenamtlich oder freiwillig erbrachte Leistungen.

Genau dieser Austausch, dieser Auf- und Ausbau von sozialem Kapital, von Werten wie Vertrauen und Reziprozität, geschieht «im Kleinen»: Entweder in einem relativ klar abgesteckten geografischen Raum, einer Talschaft, einem Quartier, oder aber in einer Interessens- und Wertegemeinschaft, deren Mitglieder zwar durchaus weit voneinander entfernt sein können, aber gleichwohl eine Art moderne Dorfgemeinschaft bilden. Es ist das, womit ich mich identifizieren will. Es ist das, was für mich Identität ausmacht. Eine globalisierte und scheinbar rationale Welt kann mir dieses höchste Gut nicht bieten.  

Felix Wettstein (65), Olten, Nationalrat der GRÜNEN und Mitglied der Finanzkommission. Studium der Pädagogik, Geografie und Volkskunde an der Universität Zürich. Seit 2000 Professor der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, mit Schwerpunkt Gesundheitsförderung und Prävention. Präsident von pro-salute.ch, die Stimme der Konsumentinnen, Prämien­zahler und Patientinnen. Frühere politische Ämter: 14 Jahre Mitglied des Oltner Gemeindeparlaments, 9 Jahre Kantonsrat des Kantons Solothurn.

Diesen Artikel teilen