Lieber mehr als weniger Globalisierung
Es heisst, alles aus der Region sei super. «Support your locals», lokale Wertschöpfung und lokale Bezugsquellen, z.B. beim Fleisch. Kann Wirtschaft regional funktionieren?
Daniel Probst: Ich bin natürlich Fan von lokalen Produkten. Wild beispielsweise kommt aus unseren Wäldern; wenn ich Gemüse oder Früchte einkaufe, achte ich darauf, dass es aus der Region kommt und auf Biolabel. Ich finde es sehr wichtig, dass man nachhaltig konsumiert, wo es geht. Auf die Gesamtwirtschaft übertragen, wird es allerdings komplizierter.
Weshalb?
Es wird komplizierter, weil die Schweiz vor den Niederlanden und Belgien das am meisten globalisierte Land der Welt ist. Das heisst mit anderen Worten, wir verkaufen nicht nur viele Produkte ins Ausland – alleine der Kanton Solothurn exportiert jährlich Waren im Wert von 5 Milliarden Franken ins Ausland – sondern wir importieren auch viel (Solothurn CHF 4,5 Milliarden pro Jahr). Es gibt kein Produkt, auch keine Dienstleistung, die nicht irgendetwas aus dem Ausland enthält, seien es Rohstoffe, sei es Technologie. Wenn man sich die Frage stellt: «Funktioniert die Wirtschaft lokal und regional?», antworte ich mit einem klaren Nein.
Etwas provokativ ausgedrückt: Wenn man sich vorstellen will, wie wir mit weniger Globalisierung auskämen, kann man nach Ballenberg ins Freilichtmuseum fahren. Es zeigt die Schweiz vor der Industrialisierung, als es noch keinen internationalen Handel gab und man im Schnitt 40 Jahre alt wurde. Die Säuglingssterblichkeit war 60 mal höher als heute. Man lebte sehr einfach, war selbstversorgt. Das ist romantisch, aber niemand will dorthin zurück. In der heutigen, vernetzten Welt und der sehr stark vernetzten Schweiz muss man sich vor Augen führen, dass wir unseren hohen Wohlstand der Globalisierung verdanken. Viele Länder haben von der Globalisierung profitiert, wir in der Schweiz besonders! Das Rad der Geschichte zurückzudrehen, ist unmöglich.
Gibt es Branchen im Kanton Solothurn, die einerseits wachsen, also gesund sind, aber trotzdem
sehr regional agieren?
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen binnenorientierten Branchen, das sind mehr die gewerblichen, regional tätigen Unternehmen und den exportorientierten. Exportorientiert sind eher Industrie- und Dienstleistungsbetriebe, Banken zum Beispiel. Die Binnenorientierten verkaufen ihre Produkte und Dienstleistungen lokaler. Aber damit sie eben diese Produkte und Dienstleistungen anbieten können, sind sie natürlich immer wieder auf Importe angewiesen. Da ist keine Branche ausgenommen. Ein/e Gärtner:in zum Beispiel braucht Maschinen, die selten in der Schweiz produziert werden . Er/sie braucht ein Auto, IT-Hard- und Software, ein Smartphone. Keines dieser Produkte wird in der Schweiz hergestellt. Auch ein einfacher Dienstleistungsbetrieb hat zwar lokale Kunden, sein Geschäft ist lokal, aber er ist auf eine globalisierte Wirtschaft angewiesen, die ihm hilft, seine Dienstleistung überhaupt zu erbringen.
Gibt es die autarke Solothurner Unternehmung eigentlich nicht, die im Kanton aus Rohstoffen etwas herstellt und es in Solothurn verkauft?
Ich denke, das gibt es zum Teil schon, und ich würdige deren Initiative. Es gibt kleine Vereine, in denen sich Menschen zusammenschliessen, einen Garten bewirtschaften und darauf achten, dass sie einheimische Arten verwenden. Das ist lokale Wertschöpfung. Aber wenn man mit diesen Leuten spricht und sie ganz ehrlich sind, ist das Regionale eher ein Lebensgefühl, das man für ein paar Stunden pro Woche hobbymässig leben kann. Man kommt zur Einsicht, dass ein «Local-for-Locals» auf einer anderen Ebene schnell nicht mehr funktioniert.
Ist das eine Mischung zwischen Nische und Selbstbetrug?
Es geht vielleicht schon ein bisschen in diese Richtung. Aber das Wort Selbstbetrug ist mir fast zu hart, ich finde die Idee, lokal zu wirken ja gut. Wenn Leute sagen: «Ich will etwas lokal für Lokale machen», dann finde ich das erstrebenswert. Ich lege dann Widerspruch ein, wenn man glaubt, wir könnten das auf allen Ebenen umsetzen, oder die Wirtschaft und Gesellschaft könne generell so umgebaut werden.
Als Wirtschaftsmodell also?
Genau, ein solches Wirtschaftsmodell würde einhergehen mit einem grossen Wohlstandsverlust. Dinge würden teurer werden und es ist auch ein bisschen unsozial. Menschen mit tiefem Einkommen kaufen viel öfter importierte Produkte, weil sie in der Regel günstiger sind. Würde man zum Beispiel den Import von Produkten verbieten oder die Zölle weiter erhöhen, um inländische Produktion zu fördern oder zu schätzen, dann wäre der gehobene Mittelstand nicht betroffen. Die einkommensschwache Familie hingegen schon, die sich gewisse Dinge wie ein Mobiltelefon nicht mehr leisten könnte. Auch Nahrungsmittel, Spielzeuge, alles würde teurer. Wenn man sozial sein will, muss man möglichst die Zölle abschaffen und den Zugang zur globalisierten Welt erleichtern.
Ein Markt, der eine grosse Rolle spielt und lokal oder regional ist, ist der Arbeitsmarkt, sind Mitarbeitende.
Täuschen Sie sich da nicht, das regionale Angebot an Arbeitskräften reicht nicht mehr. Viele westliche Länder schaffen es kaum mehr, sich selbst zu reproduzieren, d.h. ihre Bevölkerungszahl bleibt konstant. In der Schweiz liegt die Geburtenrate durchschnittlich bei etwa 1,5 Kindern pro Frau, es bräuchte jedoch 2,1. Auch in China liegt sie bei 1,5. In China ist die Bevölkerung letztes Jahr zum ersten Mal seit 60 Jahren geschrumpft. Die Abnahme der Geburtenraten korreliert mit dem Bildungsniveau der Frauen: Je besser diese gebildet sind, desto stärker nimmt die Rate ab. Im Moment liegen nur noch afrikanische Länder bei 2,5 Kindern, vor ein paar Jahren noch bei über fünf. Lange Rede kurzer Sinn: Wir haben eigentlich zu wenig Menschen. Und denen müssen wir Sorge tragen.
Wir brauchen eine solide Grundbildung und gute Weiterbildungsmöglichkeiten im Sinne des lebenslangen Lernens, damit die Menschen auf die gesuchten Profile in der Arbeitswelt passen. Dann müssen wir vorhandene Potenziale erschliessen. In einem ländlich geprägten Kanton wie Solothurn haben wir zum Beispiel noch viele Frauen, die gerne mehr arbeiten würden. Es ist aber leider so, dass sie oft hauptverantwortlich sind für die Kinderbetreuung. Familienfreundliche Strukturen fehlen, im Vergleich zu den Städten, auf dem Land noch. Auch für Menschen mit Beeinträchtigungen können wir mehr tun, finde ich, und sie durch entsprechende, bereits existierende und ausbaubare Betreuungsmodelle für Aufgaben im ersten Arbeitsmarkt befähigen. Das alles reicht aber nicht. In der Schweiz werden in den nächsten zehn Jahren eine Million Menschen in Rente gehen und nur 500 000 nachkommen. Zum Glück ist die Schweiz dank des Lohnniveaus und der Lebensqualität ein Einwanderungsland. Zum Glück kommen netto 50 000 Menschen pro Jahr herein – ich bin froh darüber. Wir hätten ein noch grösseres Arbeitskräfteproblem als jetzt schon. Es gibt Teile auf der Welt, auch in Europa, die entvölkert werden. Als Einwanderungsland profitieren wir eben auch hier von der Globalisierung. Eigentlich müssen wir jeden Menschen, der willig ist, einzuwandern und zu arbeiten, willkommen heissen. Zuerst sind jedoch die Inlandpotenziale zu realisieren. Der grösste Hebel liegt bei familienfreundlichen Strukturen sowie guten Aus-, vor allem aber Nachhol- und Weiterbildungsangeboten.
Wenn ich Sie richtig verstehe, sind wir in allen Bereichen vom globalen Markt abhängig. Wie können
wir dem entgehen?
Wir sind noch zu wenig globalisiert. Die Wirtschaft hat sich zu einseitig auf bestimmte Regionen konzentriert. In den letzten Jahren hat sich vieles in Richtung Asien verschoben. Viele Firmen, sei es in Nordamerika oder Europa, haben auch gewisse Teile der Wertschöpfungskette immer weiter nach Asien verschoben. Ich denke, diese Einseitigkeit ist ein grosses Risiko. Man merkt: Wegen der Lockdowns kommen die Chips für die Automobilindustrie aus Taiwan nicht mehr, die Liste der Produkte mit Lieferschwierigkeiten ist lang. Einige Unternehmen im Kanton Solothurn haben darauf reagiert. Bis jetzt hatten sie vielleicht ein oder zwei Lieferanten, nun stellen sie auf eine Vier-Lieferanten-Strategie um. Das zeigt in die richtige Richtung, es geht um Diversifizierung, um Zulieferer auf möglichst verschiedenen Kontinenten, darunter auch ganz Südamerika, ganz Afrika. Die Menschen dort werden auch von der Globalisierung profitieren, wie auch wir ihr unseren Wohlstand verdanken.
Daniel Probst (49) Studium der Volks-
und Betriebswirtschaft Universität Basel. Über 20 Jahre Führungserfahrung, über 15 Jahre Berufserfahrung in Kommunikation, Marketing und Verkauf in der Energie- und Telekommunikationsbranche. Seit 10 Jahren Direktor der Solothurner Handelskammer und Geschäftsführer von zwei Schweizer Branchenverbänden. Mehrjährige Tätigkeit in Verwaltungsräten sowie in Vorstands- und Aufsichtsgremien auf Ebene Bund, Kanton und Gemeinden. Über 25 Jahre politische Arbeit auf Ebene Kanton und Gemeinde.