Recht im Wandel oder wandelbares Recht?
Eingriff des Staates in zivilrechtliche Verhältnisse
Covid-19 hat unser Leben in vielen Bereichen verändert. Das Händeschütteln, eine wichtige Geste der Begrüssung und des Respekts, wird nicht mehr praktiziert. In öffentlichen Verkehrsmitteln tragen wir eine Maske. Kurzarbeit ist auch für Selbstständigerwerbende möglich. Der Staat hat mittels Notrecht bzw. aufgrund des Pandemiegesetzes massiv in wesentliche Bereiche unseres Lebens eingegriffen. Die Geschäftsmieten und das Reisen sind besonders betroffen.
Geschäftsmieten: Das Parlament übernimmt die Rolle des Gerichts
Mit einer knappen Mehrheit hat das Parlament Anfang Juni 2020 eine nachträgliche Reduktion für gewerbliche Mieten um 60 Prozent während der Zeit des Lockdowns beschlossen. Diese Regelung soll für Geschäfte gelten, die wegen Covid-19 vorübergehend schliessen mussten und einen Mietpreis bis maximal CHF 20 000 pro Monat bezahlen. Der Bundesrat muss nach der Annahme dieser Motion durch die beiden Räte nun ein entsprechendes Gesetz ausarbeiten. Dieses wird frühestens Ende 2020 verabschiedet werden können.
Die Schweiz steht mit diesem Vorgehen alleine da. Sämtliche Nachbarländer haben sich dagegen entschieden, sich in das Mietverhältnis zwischen Privaten einzumischen. Was ist dran am Entscheid des Schweizer Parlaments? Was würde passieren, wenn es nicht in diese zivilrechtliche Angelegenheit eingegriffen hätte?
Klagen als Alternative
Die Mieter von Geschäftsräumen hätten wegen eines Mangels an der Mietsache Klage beim Gericht einreichen und eine Mietreduktion verlangen müssen für jenen Zeitraum, in dem das Mietobjekt nach ihrem Dafürhalten nicht mehr bestimmungsgemäss verwendet werden konnte. Das Gericht hätte sodann jeden Einzelfall überprüft und individuell entschieden. Alternativ hätten beide Parteien untereinander Lösungen aushandeln müssen. Schliesslich hat der Vermieter ein genuines Interesse an einem langfristigen Mietverhältnis und ist daran interessiert, mit dem Mieter ein gutes Verhältnis zu pflegen und sein wirtschaftliches Überleben sicherzustellen.
Das Parlament hat sich mit dem Entscheid betreffend Geschäftsmieten auf dünnes Eis begeben, in dem es von Amtes wegen in rein zivilrechtliche Vertragsverhältnisse eingegriffen und damit die Entscheide der Judikative vorweggenommen hat. Individuelle Lösungen oder Anreize für Kompromisse zwischen Vermieter und Mieter wären sachdienlicher gewesen. Es stellt sich auch die Frage, was in einer erneuten Krise – ausgelöst durch eine Pandemie oder etwas anderes – geschähe. Will das Parlament nun jedes Mal in private Dinge eingreifen, um temporäre Probleme von Amtes wegen zu regeln? Ein Präjudiz wurde mit dem Parlamentsentscheid auf jeden Fall geschaffen.
Reisen: Konsumentenschutz unter allen Umständen – oder tragen wir selber doch ein gewisses Risiko?
Die Corona-Krise wirft Fragen im Zusammenhang mit der Eigenverantwortung und Risikoabsicherung auf. Nehmen wir das Beispiel «Pauschalreisegesetz». Das Gesetz sieht vor, dass der Reiseveranstalter verpflichtet ist, sämtliche Gelder für Reisen, die er aufgrund von Covid-19 annullieren musste, dem Konsumenten zurückzuerstatten. Dies basierend auf dem Pauschalreisegesetz von 1994, das ein Grossereignis wie der weltweite Lockdown nicht voraussehen und umfassen konnte. Es ist daher zumindest fraglich, ob diese einseitige Risikoverteilung tatsächlich gewollt war. Darf der Konsumentenschutz so weit gehen?
Aus Sicht eines Reisebüros kann es doch nicht sein, dass die Beratungszeit, die Erstellung von Offerten und Reiseprogrammen sowie das Zusammenstellen von Reiseunterlagen nicht honoriert werden und bei Rückzahlungen für diese Dienstleistungen kein Honorar in Rechnung gestellt werden darf. Das ganze finanzielle Risiko der Vertragspartner wird demnach nur von einer Partei getragen. In einer partnerschaftlichen Vertragsverhandlung sollte die Grundidee sein, dass jeder seinen Beitrag zur Bewältigung einer Krise leisten muss. Die Ausgangslage hat sich verändert, Gesetz hin oder her. Im Rahmen des Vertragsrechts kennen wir die «clausula rebus sic stantibus», die besagt, dass der Richter bei Vorliegen von besonderen Umständen vom Grundsatz «pacta sunt servanda» (Verträge sind einzuhalten) abweichen und Verträge nach richterlichem Ermessen anpassen kann. Dies sollte auch für Gesetze gelten.
Es gibt Ereignisse wie die Corona-Krise, die nicht voraussehbar sind. Offenbar haben wir verlernt, mit gesundem Menschenverstand zu agieren. Das heisst, zu akzeptieren, dass ein Vertrag oder ein Gesetz oder eine Versicherungspolice nicht alles regeln kann und soll. Ein übertriebener einseitiger (Konsumenten-)Schutz kann den Vertragspartner in den Ruin treiben. Um im konkreten Fall das Konsumgut «Reisen» zu schützen, geht ein Wirtschaftszweig unter. Da stellt sich die Frage, ob solche Ereignisse tatsächlich von einem Gesetz (im Voraus) geregelt werden können.
Fazit: Einer Krise mit gesundem Menschenverstand begegnen
Ein Leben ohne Risiko gibt es nicht. Wir sollten (wieder) damit leben lernen, dass wir uns weder vertraglich noch mittels Gesetz zu 100 Prozent absichern können, denn wir werden die Zukunft nie gänzlich voraussagen können. Selbstverständlich kann man versuchen, während harter Vertragsverhandlungen das Risiko möglichst der Gegenseite aufzubürden oder mittels strengen Gesetzes den Konsumenten zu schützen.
Doch am Schluss bleibt die Unmöglichkeit der Voraussage künftiger Ereignisse und deren Komplexität. Es gibt Dinge, für die niemand verantwortlich ist und für die jeder die Verantwortung tragen oder zumindest mittragen muss. Dies sollten wir uns wieder in Erinnerung rufen – und beim Verhandeln von Verträgen und bei der Ausarbeitung von Gesetzen den gesunden Menschenverstand walten lassen. Letztlich sollte es ein Miteinander sein, sei es als Geschäftspartner oder als Bürger bzw. Staat. Die nächste Krise kommt bestimmt – und auch ein Wohlfahrtsstaat hat seine Grenzen.