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Unternehmen neu gedacht  

Digitale Transformation ist Organisation in Netzwerken

Wir verstehen langsam, dass digitale Transformation ein weitreichender gesellschaftlicher Veränderungsprozess ist, der sämtliche Lebensbereiche umfasst und unsere Lebens- und Arbeitswelten irreversibel und grundlegend verändert.

Digitalisierung ist seit vielen Jahren eines der Hauptthemen in Unternehmen. Kein Strategiepapier, das das Thema nicht ganz oben auf die Liste setzt, kaum eine Organisation, die nicht darüber nachdenkt, wie aus neuen technologischen Ansätzen Wertschöpfung generiert werden könnte oder wie kommende Ökosysteme das eigene Geschäftsmodell verändern werden. Und die Pandemie hat dem Thema einen weiteren Schub verliehen. Sie hat nicht nur aufgezeigt, wie leicht sich bürokratische Vorgaben abbauen lassen, sondern in der breiten Gesellschaft ganze konkrete digitale Erlebnisse und Erfahrungen von Online-­Shopping über Homeoffice und E-Learning bis Telemedizin geschaffen. 

Von Systemen zu Netzwerken

Es lohnt sich deshalb, dem Phänomen der digitalen Transformation etwas genauer auf die Spur zu gehen. Digitale Transformation ist, das wird oft vergessen, viel mehr als Internet und Social Media, mobile Anwendungen oder Sensoren, mehr als Big Data und Predictive Analytics. Digitale Transformation ist im Kern kein technologischer, sondern ein gesellschaftlicher und kultureller Veränderungsprozess, bei dem Technologie lediglich als Katalysator wirkt. Kern digitaler Transformation ist nicht Technologie, sondern Konnektivität, die zunehmende Organisation unserer Welt in Netzwerken. Dominierende Organisationsform in allen Bereichen der Gesellschaft sind nicht mehr geschlossene, top down gesteuerte Systeme mit klaren Rollen und Funktionen, sondern offene, agile, sich ständig im Wandel befindliche, selbstorganisierende Netzwerke. Digitale Transformation ist damit ein Veränderungsprozess, der auch Organisationsstrukturen verändert. Weitab von klassischen Linienarchitekturen organisieren sich immer mehr Unternehmen in dezentralen, selbstorganisierten Teams und vernetzen Strukturen. Organisationstheoretische Ansätze wie Soziokratie oder Holokratie finden Eingang in Schweizer Unternehmen.

Netzwerkorganisationen lassen sich aber nicht wie traditionelle Organisationen managen oder top down steuern. Ordnung entsteht in Netzwerken vielmehr bottom up, selbstorganisiert und emergent. Dies erfordert neue Formen von Führung und Governance. Führungspersonen müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass in Netzwerken permanent Interaktionen und Kräfte zur Wirkung kommen, die sich nicht nach den Organisationsmustern der Hierarchie richten. 

Digitale Transformation geht zudem mit einer Reihe neuer Werte und Normen, einer neuen Grundhaltung Kunden und Mitarbeitenden gegenüber und einer neuen Unternehmenskultur einher. Kunden und Mitarbeitende fordern offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation. Kommunikation nach innen und aussen soll offen, selbstkritisch, ehrlich und dialogbereit sein. Zudem ist Transparenz gefordert: Wer heute als Einzelperson insbesondere in einer Führungsposition oder als Organisation nicht transparent ist, ist suspekt. Und Kunden und Mitarbeitende möchten auf Augenhöhe kommunizieren und von Beginn weg in Prozesse und Entscheide einbezogen werden. 

Technologien – Prozesse – Kultur

Digitale Transformation muss aus Organisationsperspektive deshalb als sehr umfassender Veränderungsprozess betrachtet werden, der die drei Handlungsebenen Technologie, Prozesse und Kultur umfasst. 

Organisationen unternehmen heute in der Regel grosse Anstrengungen auf der Ebene von Technologie und Daten: die richtigen, vollständigen und standardisierten Daten an einem Ort zu haben; über Echtzeit-Informationen zu verfügen, mit gemeinsamen strukturierten Datenmodellen zu arbeiten und neue Technologien wie digitale PlanungsTools, mobile Cloud-Lösungen für Projektplanung oder vernetzte Geräte zu nutzen. Das ist nicht trivial, aber machbar. Gegenwärtig werden in den meisten Unternehmen in diesem Bereich auch die meisten finanziellen und personellen Ressourcen investiert. 

Die zweite Ebene digitaler Transformation, jene der Prozesse, ist etwas anspruchsvoller in der Umsetzung. Auf dieser Ebene sind Herausforderungen angesiedelt wie die digitale Durchgängigkeit der Prozesse, integrierte, modellbasierte Kollaboration, Automation in der Ausführung, intelligente Logistik oder digitale Service- und Kommunikationskanäle. 

Die dritte und wichtigste Ebene digitaler Transformation ist gleichzeitig auch jene, die am wenigsten Beachtung erfährt, vielleicht weil sie am schwierigsten umzusetzen ist. Es ist die Ebene der Organisationskultur und des Mindset. Dabei geht es um die Erarbeitung einer organisationsinternen oder noch besser einer branchenübergreifenden Vision, die Antworten liefert auf die Frage, wohin die gemeinsame Reise auf dem Hintergrund der digitalen Transformation geht. Es geht um die Ableitung entsprechender Strategien für die eigene Organisation, um Überlegungen zu digitaler Governance oder welche Kompetenzen die Organisation benötigt, um veränderungsfähig zu bleiben.

Digitale Transformation ist deshalb nicht in erster Linie Aufgabe der IT, sondern eine Führungsaufgabe, da es im Kern nicht um die Implementierung neuer Hard- und Software, sondern um das Überdenken von Rollen und Kompetenzen, das Öffnen von Organisations- und Fachgrenzen geht. In vielen Organisationen gibt es heute Innovationsabteilungen, die an diesen Themen arbeiten, doch auf strategischer Unternehmensebene ist das Wissen um die transformativen Prozesse gering. Das Thema «Digital Governance» zum Beispiel hat die meisten Geschäftsleitungen und Verwaltungsräte noch nicht erreicht.

Zukunftskompetenzen

Dass der rasch voranschreitende technologische Wandel zu tief greifenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt führt, ist bekannt. Es gibt unzählige Studien über die Auswirkungen dieser Veränderungen. Dabei gibt es vereinfacht gesagt zwei Lager: Die einen prognostizieren einen ersatzlosen Wegfall der Hälfte der heutigen Jobs aufgrund der Digitalisierung und Automatisierung in den nächsten 30 Jahren mit der Folge, dass wir uns mit Themen wie Grundeinkommen und sozialer Solidarität in ganzer neuer Dringlichkeit auseinandersetzen müssen. Andere glauben an das Entstehen einer Vielzahl neuer Berufe, die insbesondere humane Fähigkeiten wie Beraten, Begleiten, Umsorgen und Vernetzen ins Zentrum stellen. Auf diesem Hintergrund wird die Auseinandersetzung mit dem Thema «Future Work Skills» zu einem weiteren dringenden Handlungsfeld für Führungskräfte. Es ist vorrangige Führungsaufgabe, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Kompetenzen eine Organisation auf dem Hintergrund digitaler Transformation benötigt. Die University of Phoenix hat vor ein paar Jahren eine gleichermassen interessante wie zum Nachdenken anregende Kompetenzübersicht zusammengestellt. Interessanterweise finden sich in dieser Liste keine fachlichen oder technischen Kompetenzen, sondern 

  • die Fähigkeit, Dingen eine tiefere Bedeutung oder Wichtigkeit beimessen zu können, moralische Urteilsfähigkeit (Sensemaking),
  • die Fähigkeit, kritisch mitzudenken und Dinge zu Ende zu denken (Critical Thinking). Mit dem Wegfall verbindlicher übergeordneter Autoritäten stehen wir vor der Schwierigkeit, selbst über Wahrheit und Unwahrheit, Fake oder Nicht-Fake entscheiden zu müssen in einer Welt, in der kein gesellschaftlicher Konsens mehr darüber besteht, welche Werte und welches Wissen allgemeinverbindlich gelten solle
  • die Fähigkeit, Strukturen, Prozesse und Haltungen immer wieder neu zu denken – auch nach vielen Jahren in der gleichen Organisation (novel, adaptive Thinking),
  • die Fähigkeit zu sozialer Intelligenz und Empathie (Social Intelligence),
  • die Fähigkeit zur Differenzierung, zur Unter­scheidung von Wichtigem und Unwichtigem und zur Bewältigung von Überfülle (Cognitive Load ­Management),
  • die Fähigkeit, in heterogenen Teams zu arbeiten (Cross Cultural Competency). Untersuchungen zeigen, dass jene Gruppen am intelligentesten und innovativsten sind, in denen Menschen verschiedenen Alters, mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Arbeits- und Denkmustern sowie aus diversen Disziplinen zusammenarbeiten,
  • die Fähigkeit, trotz räumlicher Trennung effizient zusammenzuarbeiten (Virtual Collaboration).
  • Finnland beispielsweise hat auf diese neuen Anforderungen reagiert und ist daran, das Schulsystem umzustellen. Fächer wie Mathematik, Sprachen oder Geografie werden in den Hintergrund gerückt und Kompetenzen wie Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken und Zusammenarbeit ins Zentrum gestellt.

Fazit

Es mag noch etwas früh sein, um bereits abschliessend darüber zu urteilen, wie sich Corona auf die Digitalisierung unserer Lebenswelten auswirkt. Sicher ist jedoch, dass dieser Ausnahmezustand zu einer Art «digitalem Defreezing» in unserer Lebens- und Arbeitswelt führt. Ein langsames Auftauen, was den Einbezug digitaler Tools und Technologien, die Etablierung durchgängig digitaler Prozesse, das Experimentieren mit vernetzten und dezentralen Organisationsformen, aber in erster Linie was die Haltung dem digitalen Wandel gegenüber betrifft. Corona hat eine neue Wirklichkeit geschaffen, hinter die keine Organisation mehr zurückgehen kann.

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