In dubio pro Apéro

Wir zurückhaltend wirkenden Schweizerinnen und Schweizer mögen auf Aussenstehende nicht wie geborene Netzwerker wirken, aber wir sind es zweifellos, schliesslich kennt man in der Schweiz die Netzwerk Wunderwaffe schlechthin: den Apéro. Dieser ist allgegenwärtig! Wenn man hierzulande etwas zu feiern hat – egal was –, wartet man keine zwei Sekunden und macht prompt einen Apéro.
Kollege hat Geburtstag: Apéro.
Mitarbeiterin ist schwanger: Apéro.
Chef ist krank: Apéro riche!
Das ist keineswegs eine neue Erscheinung, der Apéro ist Teil einer langen Tradition, begründet 1291 von den drei Speisgenossen Walter Fürst, Werner Stauffacher und Betty Bossi, beim sogenannten Cüpli-Schwur. Seither ist er tief in der nationalen DNA verankert, was für die Deutschen «Schwarz, Rot, Gold» ist, ist für uns Schweizer «Orangensaft, Weisswein, Mineralwasser», und ein Schweizer ohne Apéro wäre ein Widerspruch in sich, so wie Hass-Liebe (oder Walliser-Deutsch).
Es stellt sich die Frage: Warum geniesst der Apéro einen solch hohen Stellenwert? Wem verdankt er seinen Nimbus? Schwierige Frage. Nicht wenige Verschwörungstheoretiker glauben, es handle sich um Gehirnwäsche, durchgeführt von niemand Geringerem als Polo Hofer. Dieser soll sich ein Vorbild an den Beatles genommen haben: Deren Song «Lucy in the Sky with Diamonds» bildet das Akronym LSD, ist also ein vermeintlich versteckter Drogensong. Polo schrieb darauf seinen bekanntesten Hit «Alperose» mit ähnlich versteckter Botschaft: Wenn man beim Wort «Alperose» das «L» und das zweite «E» streicht, ergibt das – voilà! – Aperos. Kein Wunder, ist man dazu verleitet, andauernd ein Buffet aufzustellen, wenn das Radio immer und immer wieder singt: «Apéros chöme mir i Sinn.»
In einer Zeit des stetigen Wandels bildet der Apéro eine Konstante, einen sicheren Wert, ja eine Art Schweizer Esperanto! Und alle sind willkommen: An einem Apéro trifft die Bankerin auf den Hausmann und die Studentin auf den Lehrer – das ist Biodiversität. (Apropos Lehrer: Was ist der Unterschied zwischen einem Schulhaus und einer SP-Tagung? Bei der SP-Tagung hat’s mehr Lehrer). Jedes Kind weiss, Apéros sehen in ihrer Grundform überall mehr oder weniger gleich aus: Man steht irgendwo in einem Pavillon, einer Mehrzweckhalle, einem Geschäftsraum oder einem Garten, in der einen Hand etwas zu trinken, in der anderen ein Häppli – oh Häppli day! –, im Vordergrund Buffet und Stehtische, im Hintergrund eventuell ein wenig Jazz, der aber niemanden wirklich interessiert. An diesem Punkt kommt das Netzwerken ins Spiel. Dabei geht es aber um weit mehr als bloss den Austausch von Visitenkarten und Gefälligkeiten. Das wichtigste Instrument beim apéroschen Netzwerken ist der Small Talk. Dieser ist nicht zu unterschätzen und erweist sich als äusserst komplex. Mich überfordert Small Talk regelmässig. Neulich zum Beispiel kam an einem Apéro ein wildfremder Mann auf mich zu und fragte aus heiterem Himmel: «Ist es nicht eine Geldverschwendung, wie der Staat mit unseren Steuergeldern umgeht?» Klar, eine interessante Frage, aber ich war völlig überrascht und überfordert und wusste nicht, wie reagieren, also äusserte ich impulsiv das Erstbeste, was mir in den Sinn kam: «Ja … kann sein. Aber ist es nicht auch eine Geldverschwendung, wenn der Fahrer eines Leichenwagens den Nothelferkurs besucht?» Das einzige Thema, bei dem ich mich small talkend einigermassen wohlfühle, ist Politik, aber da kennen sich dummerweise meine Gesprächspartner kaum aus. Wie will ich mit jemandem über Politik diskutieren, der nicht einmal weiss, wer Simonetta Schneider Schlumpf ist? Eben.
Fest steht, der Apéro hat den kulturellen und sozialen Diskurs geprägt wie kaum etwas anderes, man denke an Immanuel Kants kategorischen Aperitif («Serviere den Leuten nur das, was du selbst serviert bekommen möchtest») oder den bekannten Ausspruch Warren Büffets: «Inestäche, umeschloh, dürezieh und Apéro». Der Apéro ist also mehr als bloss ein munterer Imbiss mit zwanglosem Austausch, es ist ein Häppli-ning, eine Philosophie, ja eine Lebenseinstellung. Apéro, ergo sum! Wenn Sie also Ihr bestehendes Netzwerk pflegen oder gar ein neues aufbauen möchten, warten Sie keine zwei Sekunden und machen Sie einen Apéro. Sie können nichts falsch machen. Ausser vielleicht beim Small Talk.
Kilian Ziegler aus Olten ist Slam Poet, Kabarettist und Wortspieler. Er gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Slam Poeten der Schweiz. Ziegler wurde 2018 doppelter Poetry-Slam-Schweizermeister – er gewann im Casinotheater Winterthur sowohl den Einzel- als auch den Team-Titel, zusammen mit Phibi Reichling als «die agile Liga». Er hat unzählige Poetry Slams gewonnen und tritt seit 2008 im gesamten deutschsprachigen Raum auf. Solo-Shows, Lesebühnen, Vorträge, Workshops an Schulen, Moderationen, Kolumnen und Auftragstexte gehören zu seinen Tätigkeiten.